R. Henrich u.a. (Hrsg.): Johann Conrad Ulmer (1519–1600)

Cover
Titel
Johann Conrad Ulmer (1519–1600). Vollender der Reformation in Schaffhausen
Weitere Titelangaben
Referate der Jubiläumstagung zu seinem 500. Geburtstag Schaffhausen, 28.–30. März 2019


Herausgeber
Henrich, Rainer; Specht, René
Reihe
Schaffhauser Beiträge zur Geschichte
Erschienen
Zürich 2020: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
304 S.
Preis
CHF 48.00
von
Peter Opitz

Der anzuzeigende Band enthält Vorträge einer Tagung, die anlässlich des fünfhundertsten Geburtstags des Schaffhauser Reformators Johann Conrad Ulmer im März 2019 gehalten wurden. Als Herausgeber fungieren René Specht, ehemaliger Leiter der Schaffhauser Stadtbibliothek und Rainer Henrich, der sich um die Erschliessung der Ulmeriana zwischen 2016 und 2020 verdient gemacht hat. Zwar wandte sich Schaffhausen bereits 1529 offiziell der Reformation zu. Bedingt durch unterschiedliche Faktoren erstreckte sich der Prozess ihrer Durchsetzung und Etablierung in Schaffhausen aber bis zum Ende des Jahrhunderts, also tief ins Zeitalter der protestantischen Orthodoxie mit ihren spezifischen religionspolitischen Rahmenbedingungen und Themen hinein.

Eröffnet wird der Band durch einen von Roland E. Hofer verfassten Überblick über diesen geschichtlichen Hintergrund. Anschaulich zeichnet er hier den Schaffhauser Johann Conrad Ulmer als späten «Vollender» der Reformation Schaffhausens ein. Grundlegend für den gesamten Band ist der Beitrag von Rainer Henrich über die Erschliessung der Ulmeriana. Lehrreich und zeitgeschichtlich-illustrativ zugleich wird hier Ulmers Nachlass vorgestellt, der einen umfangmässig eindrücklichen Briefkorpus von 1150 Briefen umfasst, das über Ulmers sich von Magdeburg bis Genf erstreckendes Kommunikationsnetzwerk Auskunft gibt. Mit seinen durch die Arbeit an den Quellen erworbenen Kenntnissen steht er wie immer diskret auch bei anderen Beiträgen beratend im Hintergrund und trägt so massgeblich zum Gelingen des Bandes bei. Ein Beitrag von Theodor Ruf befasst sich anschliessend mit den 22 Jahren, in denen Ulmer in Lohr wirkte, geprägt durch Schwierigkeiten der Etablierung der Reformation in der lokalen Bevölkerung, aber auch seine Heirat und Familiengründung und durch reichspolitische Ereignisse wie das Interim und seine Folgen. Es liegt nahe, Ulmers Briefwechsel besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Urs Leu präsentiert in einem längeren Beitrag den Schwerpunkt von Ulmers Korrespondenz mit den Zürcher Gelehrten, allen voran Heinrich Bullinger und nach ihm Rudolf Gwalther und Wilhelm Stucki, die das Gros des Nachlasses ausmacht. Überaus aufschlussreich ist Leus thematische Erschliessung der Korrespondenz, nicht nur hinsichtlich Ulmers selbst und seiner Beziehung zur Zürcher Reformation – dazu gehören kritische Anfragen ebenso wie Versuche, diese in den deutschen Raum hineinzuvermitteln –, sondern auch im Blick auf das politische Tagesgeschehen. Béatrice Nicollier befasst sich mit der weniger umfangreichen Korrespondenz Ulmers mit dem Genfer Reformator Beza. Die akademischen Kontakte und die Vermittlung von Schaffhauser Studenten an die Genfer Akademie stehen hier im Vordergrund, ein Zeichen, dass Zürich keineswegs ein Monopol auf die Theologie der Schaffhauser Kirche besass. Im Unterschied zu diesen Untersuchungen ist die Quellenbasis für Rezia Krauers Erkundigungsgang in den brieflichen Austausch zwischen den Reformatoren Vadian, Bullinger und Ulmer über Fragen der erlaubten Verwandtschaftsgrade bei Ehen im rechtsgeschichtlichen Kontext der Zeit sehr viel schmaler. Die damit notwendig gemachten quellenkritischen und methodischen Überlegungen machen ihren Beitrag aber zu einer schönen kleinen Fallstudie historischer Arbeit und ihren quellenbedingten Grenzen. Erich Bryner, der sich bereits andernorts eingehend mit Ulmer und dem Schaffhauser Katechismus beschäftigt hat, steuert einen Beitrag zu Ulmers handschriftlichem Entwurf seines Katechismus von 1568 bei. Lehrreich ist die Darstellung von Ulmers katechetischer Arbeit in Lohr und in Schaffhausen, die damit verbundenen Schwierigkeiten, aber auch die Präsentation des Katechismus in seinen theologischen Akzenten, mit denen sich Ulmer klar in den Raum des Consensus Tigurinus stellte und zugleich überflüssigen theologischen Streit zu vermeiden suchte. Ulmers Beteiligung an den christologischen und abendmahlstheologischen Kontroversen seiner Zeit wird von Reinhard Gruhl anhand Ulmers Beschäftigung mit Theodoret von Kyros angedeutet. Aber Ulmer war nicht nur Theologe, sondern auch Seelsorger und Dichter. Wilhelm Kühlmann untersucht Ulmers «Trostschrift für angefochtene und betrübte Herzen» von 1579. Michael Hanstein wiederum widmet sich Ulmers Wirken als Dichter und Übersetzer von Bibeldramen mit evangelisch-volkserzieherischer und seelsorgerischer Absicht. Anschaulich wird dabei Ulmers Übersetzung des Lazarus-Dramas des Johannes Sapidus in die Volkssprache präsentiert. Mit Ulmers Lieddichtungen befasst sich Ute Nürnberger. Deutlich gemacht wird hier das katechetischseelsorgerische Anliegen Ulmers, aber auch, wie sehr seine Dichtungen von den Bedrohungen und Ängsten seiner Zeit mitgeprägt sind. Abgeschlossen wird der Band durch einen Beitrag von Rudolf Gamper zu Ulmers Rolle als Leiter der Schaffhauser Pfarrbibliothek und zu dieser selbst, sowie durch eine Studie von René Specht zu zeitgenössischen bzw. zeitnahen Porträts Ulmers.

Dass die Erschliessung von Ulmers schriftlichem Nachlass den gemeinsame Bezugspunkt der verschiedenen Beiträge bildet, ist offensichtlich und wird den Band für die Erforschung der Schaffhauser Reformation und insbesondere Johann Conrad Ulmers auf Dauer wertvoll machen. Das bringt allerdings mit sich, dass die Nennung von Drucken, die Deskription und Nacherzählung von Quellentexten und die Darstellung von Kommunikationsbeziehungen im Vordergrund stehen. Aufs Ganze gesehen nicht eben stark gewichtet wird die Frage, was Ulmer als Reformator und Theologe mit einer ungewöhnlich langen Lebensspanne und einem aussergewöhnlich weiten Erfahrungshorizont eigentlich umgetrieben hat: Was verstand er unter «Reformation»? Wofür hat er genau gekämpft und gelitten? Immerhin bewegte sich der «Schweizer» Ulmer als im (melanchthonischen) Wittenberg ausgebildeter Theologe und Reformator in verschiedensten Spannungsfeldern seiner Zeit: Biographisch nicht nur in demjenigen zwischen den Reformationszentren Wittenberg, Strassburg und Zürich, sondern innerhalb der Wittenberger Reformation auch mitten im Streit zwischen «Philippisten» und «Gnesiolutheranern», der ihn offensichtlich intensiv beschäftigte. Seine Schaffhauser Zeit war – in den konfessionellen Kontroversen im beginnenden Zeitalter der Orthodoxie – offensichtlich durch grosse Nähe zur Zürcher Theologie geprägt, ohne dass sein Denken einfach darin aufzugehen scheint. Bereits konfessionsgeographisch war seine Wirkungsstätte Schaffhausen ja eine äusserst exponierte Stadt. Angesichts der Quellen sei die Vermutung erlaubt, dass ein etwas stärkerer Einbezug theologiegeschichtlicher Kompetenz, wie sie eine Verortung Ulmers im reformatorischen Denken und Glauben, aber auch in den theologischen Debatten seiner Zeit erfordert hätte, dem Ganzen etwas mehr inhaltliche Tiefenschärfe hätte verleihen können. Ein entsprechender Mangel ist bei einzelnen Beiträgen offensichtlich. Dessen ungeachtet vermittelt der Band ein facettenreiches und anschauliches Bild Johann Conrad Ulmers und seiner Zeit, mit Schwerpunkt auf sein drei Jahrzehnte langes Wirken in seiner Heimatstadt Schaffhausen.

Zitierweise:
Opitz, Peter: Rezension zu: Henrich, Rainer; Specht, René (Hg.): Johann Conrad Ulmer (1519–1600). Vollender der Reformation in Schaffhausen. Referate der Jubiläumstagung zu seinem 500. Geburtstag Schaffhausen, 28.–30. März 2019, Zürich 2020. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 73(1), 2023, S. 57-59. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00120>.

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